Die Branchenabstimmung startet

Die DB Netz AG geht einen ungewohnten Schritt, indem sie die Branche frühzeitig in die Planung der Generalsanierung einbindet und zu physischen und Online-Veranstaltungen einlädt. Zwar handelt es sich dabei formal lediglich um eine Unterrichtung der DB Netz über ihre Pläne, doch alle Beteiligten erhalten die Chance, Wünsche und Bedenken zu äußern. Die Schwierigkeit: Die Wünsche der Branchenvertreter:innen des Schienenpersonennahverkehrs, -fernverkehrs und -güterverkehrs weichen zum Teil stark voneinander ab.

Am 02. November 2023 findet die Auftaktsitzung dieses Dialogformates statt. Das Ziel ist ein gemeinsames Verständnis über die Identifikation sowie Festlegung der zeitlichen Reihung von Korridoren (vgl. Abb.Generalsanierung 10).

Abb. Generalsanierung 10: DB Netz AG, Präsentation „Hochleistungskorridore für Deutschland. Auftaktsitzung Branchendialog“, S. 9, 02. November 2022

Es steht bereits fest, dass die Riedbahn zwischen Frankfurt und Mannheim, eine der wichtigsten und stark belastetsten Strecken, als Pilotprojekt im Jahr 2024 dienen soll. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse sollen dann bei der Umsetzung der Sanierung der anderen Hochleistungskorridore berücksichtigt werden. Zudem soll aus einem “hochbelasteten Netz” ein “Hochleistungsnetz” entstehen.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die von der DB Netz selbstgesteckten „verbindlichen“ und „angestrebten“ Ziele (vgl. Abb. Generalsanierung 11):

  1. Zuverlässigkeit: Es sollen alle Anlagen mit einer Zustandsnote, die schlechter als 4 ist, erneuert werden. Die DB Netz will künftig jährlich ihre Anlagen nach dem Schulnotensystem (1 bis 5) bewerten. “Für das Jahr 2021 hat der Bericht eine Netzzustandsnote für das Anlagenportfolio der DB Netz AG von 2,93 ermittelt” (DVZ, 16.03.2023).  Angestrebt wird eine Zustandsnote von 1,8 für Gleise, Weichen, Stellwerke, Bahnübergänge, Oberleitungen und Tunnel. Bis 2030 soll das so bezeichnete Hochleistungsnetz eine Zustandsnote von mindestens 2,5 oder besser haben. Gleichzeitig wird angestrebt, dass die Inspektions- und Zustandsnoten gehalten werden.
  2. Leistungsfähigkeit: Durch den Einsatz des Leit- und Sicherungssystems ETCS im Zusammenspiel mit modernen elektronischen und digitalen Stellwerken sollen kürzere Blockabstände sowie ein flächendeckender Gleiswechselbetrieb ermöglicht werden. Dadurch soll die Zugfolge verdichtet werden, wodurch sich die Kapazität und Leistungsfähigkeit erhöht. Darüber hinaus sollen möglichst alle höhengleichen Bahnübergänge mit Schranken beseitigt werden. Stattdessen sollen Brücken und Unterführungen gebaut werden. Sowohl der Schienen- als auch der Straßenverkehr würden davon durch einen besseren Verkehrsfluss profitieren. Ebenso strebt die DB Netz an, die Bahnsteighöhe und -länge zu optimieren.
  3. Kundenerlebnis: Anliegende Bahnhöfe und -stationen sollen modernisiert werden, besonders die Barrierefreiheit steht im Mittelpunkt. Der Einsatz von modernen Lautsprecheranlagen, Fahrplananzeigern und eine optimierte Wegleitung sollen die Kundenzufriedenheit steigern.
  4. Baufreiheit: Nach der Generalsanierung sollen die jeweiligen Korridore nur noch für mindestens fünf Jahre ohne langwierige Bauarbeiten auskommen und nicht, wie am 15. Juli 2022 angekündigt, für zehn Jahren. Das Wort „langwierig“ ist entscheidend, denn Instandhaltungsmaßnahmen (z. B. der Rückschnitt der Vegetation entlang der Gleise) und Entstörungen werden auch nach der Sanierung (Teil-)Sperrungen verursachen.
Abb. Generalsanierung 11: DB Netz AG, Präsentation „Hochleistungskorridore für Deutschland. Auftaktsitzung Branchendialog“, S. 10, 02. November 2022

Diese Ziele sind nicht ohne einen ausgeklügelten Plan erreichbar. Zunächst müssen Kriterien zur Identifikation und Reihung der Korridore definiert werden. Dazu befragte die DB Netz in der Auftaktsitzung die Branchenvertreter:innen.  Naturgemäß hat der Schienengüterverkehr andere Wünsche als der Personennahverkehr. Für den Schienengüterverkehr steht die Verfügbarkeit von Fahrmöglichkeiten (Trassen) auf geeigneten Umleitungsstrecken im Vordergrund, der Personennahverkehr fordert hingegen einen gut strukturierten Schienenersatzverkehr. Die DB Netz schlägt der Branche daher folgende Kriterien zur Auswahl von potenziellen Korridoren vor (vgl. Abb. Generalsanierung 12):

  1. Verhältnismäßigkeit von Nutzen und Kosten: Selbstverständlich muss auch die DB Netz die Kosten und den Nutzen sinnvoll abwägen. Kennzahlen dafür sind die beförderte Verkehrsleistung, also die Anzahl der täglich verkehrenden Züge und/oder Waren auf einer Strecke, der derzeitige Anlagenzustand (dazu zählt zum Beispiel das Alter der Anlage) und die aktuelle Betriebsqualität (wie oft kommt es zu Störungen).
  2. Vorlaufzeiten sowie Planungs- und Baukapazitäten: Eine Sanierung funktioniert nur, wenn die notwendigen Kapazitäten vorhanden sind, denn ohne ausreichende Planer:innen, Bauarbeiter:innen oder Materialien kann auch nicht gebaut werden. Zudem benötigen manche Korridore mehr Planungs- und/oder Bauzeiten als andere. Korridore, bei denen viele Brücken saniert werden müssen, brauchen länger als brückenfreie Abschnitte.
  3. Umleiter und Ersatzverkehre: Trotz der Generalsanierung muss der Verkehr auf der Schiene rollen. Insbesondere die Züge des Schienengüterverkehrs sowie des Personenfernverkehrs haben meist lange Laufwege auch jenseits der gesperrten Korridore und können kaum durch Lkw oder Busse ersetzt werden. Daher müssen den betroffenen Unternehmen bereits weit im Voraus Umleiterverbindungen über andere Strecken angeboten werden, auf denen auch entsprechende zusätzliche Fahrten neben dem regulären Verkehr stattfinden können. Für den Personennahverkehr braucht es hingegen frühzeitig ein Konzept für einen reibungslosen Schienenersatzverkehr. Unter anderem müssen ausreichend Busse sowie Busfahrer:innen zur Verfügung stehen, um den eingeschränkten Personennahverkehr aufzufangen.
  4. Passfähigkeit und Synergien mit anderen Investitionsvorhaben: Die DB Netz will vorausschauend planen. Bei der Reihung und Identifikation der Korridore soll auch darauf geachtet werden, ob sich die Sanierung der Korridore mit weiteren geplanten Bauvorhaben (Korridorsperrungen wie auch andere Projekte) sinnvoll miteinander verknüpfen lässt. Auch müssen Sperrpausen auf benachbarten Strecken und Korridoren berücksichtigt sowie „kapazitätseinschränkende Maßnahmen weiterer Baulastträger“ eingeplant werden. Es soll zum Beispiel vermieden werden, dass es zu einer gleichzeitigen Sperrung von Schienenstrecken und benachbarten Autobahnen kommt, um einen Verkehrskollaps zu verhindern, auch die Sanierung von Straßen, die Kreuzungsbauwerke mit der Schiene haben, sind zu berücksichtigen.
  5. Besondere Ereignisse: Zu guter Letzt muss vermieden werden, dass die Generalsanierung Großveranstaltungen wie die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland oder die Olympischen Spiele in Paris im Jahr 2024 behindert.

Wenngleich dieser Kriterienkatalog bereits umfassend ist, hat die Branche bis zur nächsten Dialogveranstaltung zusätzlich die Möglichkeit, eigene Vorschläge einbringen. Die vorgesehene Anzahl der sanierungsbedürftigen Korridore ist zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt – möglicherweise sogar der DB Netz in großen Teilen selbst.

Abb. Generalsanierung 12: DB Netz AG, Präsentation „Hochleistungskorridore für Deutschland. Auftaktsitzung Branchendialog“, S. 10, 02. November 2022

Zum Abschluss dieses ersten Termins machte die DB Netz Nägel mit Köpfen: Sie präsentiert den Anwesenden den nächsten sowie übernächsten Korridor, die generalsaniert werden sollen. Eine Abstimmung mit der Branche blieb allerdings aus. Den GÜTERBAHNEN wurde die Absicht der DB Netz, Emmerich-Oberhausen und Hamburg-Berlin unter anderem im Jahr 2025 länger voll zu sperren, in einem ca. 15-minütigen Teil einer Videokonferenz vorgestellt. Unmittelbar danach wurde die Runde ohne Diskussion beendet. Im ersten Halbjahr 2025 sollen die Korridore Hamburg-Berlin und Emmerich-Oberhausen an die Riedbahn folgen.

  • Die 280 Kilometer lange Strecke zwischen den beiden größten deutschen Städten Hamburg und Berlin verzeichnet täglich 30.000 Fahrgäste in hunderten Zügen und stellt eine unersetzliche Magistrale für den Güterverkehr zwischen dem Hamburger Hafen und Tschechien, der Slowakei und vielen anderen Zielen in Südosteuropa dar.
  • Die Strecke zwischen Emmerich und Oberhausen ist für den Schienengüterverkehr von großer Bedeutung, wenngleich sie nur 72 Kilometer lang ist. Auf dieser Strecke werden viele Güter transportiert, die im größten europäischen Hafen Rotterdam umgeschlagen werden, von und nach Deutschland. Nach langer Diskussion startete 2020 endlich der Ausbau der Verbindung mit einem dritten Gleis in einzelnen Abschnitten. Es war seit langer Zeit klar, dass im Zuge des Ausbaus auch die beiden vorhandenen Gleise, Bahnhöfe, Bahnübergänge und anderen Anlagen komplett erneuert werden müssten.

Die Sanierung der beiden Korridore ist umfangreich (vgl. Abb. Generalsanierung 14/15), obwohl beide Strecken auch in den vergangenen Jahren bereits häufig von baubedingten Vollsperrungen betroffen waren – und werden es vor allem auch 2023 und 2024, also direkt vor der „offiziellen“ Generalsanierung, erneut sein (vgl. Abb. Generalsanierung 13).

Abb. Generalsanierung 13: DIE GÜTERBAHNEN, Anzahl der Tage mit Streckensperrungen Hamburg-Berlin und Emmerich-Oberhausen

Dieser Umstand weckt weitere Zweifel, ob die Generalsanierung wirklich so viel Neues mit sich bringen wird, wie die DB in der öffentlichen Kommunikation suggeriert.

Abb. Generalsanierung 14: DB Netz AG, Präsentation „Hochleistungskorridore für Deutschland. Auftaktsitzung Branchendialog“, S. 22, 02. November 2022
Abb. Generalsanierung 15: DB Netz AG, Präsentation „Hochleistungskorridore für Deutschland. Auftaktsitzung Branchendialog“, S. 19, 02. November 2022

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