Erste Kritik in den 70ern, die noch Jahrzehnte ignoriert werden wird
Schon lange vor der Bahnreform1994 in Kraft getretene gesetzliche und organisatorische Neuordnung der bundeseigenen Eisenbahnen in Deutschland. Bestandteile der Bahnreform waren u. a. die Gründung der Deutschen Bahn AG als privatrechtlich organisierte Eisenbahngesellschaft des Bundes und die Eröffnung einer Nutzungsmöglichkeit der Schienenwege für private Eisenbahnverkehrsunternehmen. 1994 warnten Politiker:innen vor dem Rückbau von Überholgleisen. 1973 wird die besondere Bedeutung von Überholgleisen in einer Unterrichtung durch die Bundesregierung an den Bundestag dokumentiert. Damals waren bereits wichtige Bahnstrecken überlastet: „Auf den Strecken Mannheim-Stuttgart und Hannover-Würzburg sowie auf der rechten Rheinstrecke übersteigt bereits heute die Zugzahl an vielen Tagen des Jahres die definierte Kapazität der Strecken“ (Drucksache 7/1045, S. 136).
Die Bundesregierung rechnete damit, dass diese Strecken 1985 nicht mehr in der Lage sein würden, den Verkehr vollumfänglich zu bewältigen. Besonders Güterzüge seien betroffen, denn „daß die Güterzüge in Überholgleisen warten müssen, um Reisezüge vorbeizulassen“ (ebd.), verursache zusätzliche Verlustzeiten.
In einer Kleinen Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion an die Bundesregierung aus dem Jahr 1996 zum Thema „Verspätung im Personenverkehr der Deutschen Bahn AG“ kündigt sich der Rückbau von Überholgleisen an: „Im Rahmen ihrer Bemühungen zur Reduzierung der Kosten der Infrastruktur wird auch die Vorhaltung von Überholungsgleisen auf ihre Notwendigkeit überprüft, weil die Auflassung von Gütertarifpunkten in der Fläche in Verbindung mit der Entmischung des Güter- und Personenverkehrs zu einer spürbaren Verringerung der Zahl der Überholungen von langsamen durch schnellere Züge führt“ (Drucksache 13/3921, S. 3). Leider wird die Bedeutung von Überholgleisen damals verkannt. Der Anfang einer Misere, die sich in den kommenden Jahrzehnten rächen wird.
Die negativen Folgen der Privatisierung zu Beginn des Jahrtausends
Nach der Privatisierung der Deutschen Bahn AG 1994 ist einiges passiert, um das Unternehmen zu einem in naher Zukunft gewinnbringenden Player umzustrukturieren. 2006 rechnet das Bundesverkehrsministerium damit, dass die Deutsche Bahn AG ein Jahr später an die Börse geht und dann komplett eigenständig agieren kann. Gleichzeitig ist der Rückbau des Schienennetzes in vollem Gange. Die vorhandenen Streckenkilometer sinken, Weichen verschwinden und Bahnhöfe werden stillgelegt (vor allem im ländlichen Raum). Durch den Rückbau von „unrentablen“ Strecken sollen Kosten eingespart werden. Das wirkt sich positiv auf die Gewinne der DB NetzSeit 01. Januar 2024 mit der DB Station&Service zur Infrastruktur-Tochter DB InfraGO verschmolzen. aus, allerdings umso negativer auf die Qualität der Infrastruktur. Auf Grundlage des § 18 Allgemeines Eisenbahngesetz (AEG) werden sukzessive Überholgleise zurückgebaut, denn das Gesetz erlaubt es der DB Netz AGSeit 01. Januar 2024 mit der DB Station&Service zur Infrastruktur-Tochter DB InfraGO verschmolzen., unkontrolliert – also ohne die Beteiligung von Wettbewerbern, Behörden oder der Öffentlichkeit – Überholgleise zurückzubauen. Es bedarf auch keiner Zweitprüfung oder Genehmigung durch das Eisenbahn-Bundesamt (EBA).
Besonders stark betroffen vom Rückbau: Der private Schienengüterverkehr. Junge Unternehmen, die nach der Privatisierung erst kürzlich in den Markt eingetreten sind, leiden am stärksten, da sie weniger resilient sind als die Güterverkehrs-Sparte der DB, die seit Jahrzehnten existiert. Diese Situation kritisieren Bündnis 90/DIE GRÜNEN im Jahr 2006 in einer Kleinen Anfrage (Drucksache 16/1810). Die damalige Bundesregierung weist jedoch jede Verantwortung von sich. Sie käme ihrer Infrastrukturverantwortung, festgelegt durch den Artikel 87e Abs. 4 des Grundgesetzes durch die Bereitstellung von Finanzmitteln an die DB AG nach. Die Verwendung und Verantwortung der Mittel sei die Aufgabe des neuen DB-Konzerns. Bis heute existiert der wesentliche Kritikpunkt, dass der Bund seiner Verantwortung als Alleineigentümer der DB nicht ausreichend nachkommt.
Die Bedenken gegenüber dem fortschreitenden Rückbau der Schieneninfrastruktur und somit auch von Überholgleisen stützt auch ein 2008 in Sachsen-Anhalt eingebrachter Gesetzentwurf der großen Koalition aus CDU und SPD: Die Drucksache 315/08 „Zur Sicherstellung von Eisenbahninfrastrukturqualität und Fernverkehrsangebot“ an den Bundesrat prangert die sich stetig verschlechternde Qualität der Schieneninfrastruktur an und warnt vor einem weiteren Rückbau: „[Es] besteht die Gefahr eines dem Gemeinwohl zuwiderlaufenden und oftmals irreversiblen Infrastrukturabbaus.“ Der Gesetzentwurf fordert daher einen jährlichen Infrastrukturzustands- und EntwicklungsberichtDie DB AG ist dazu verpflichtet, dem Bund bzw. dem Eisenbahnbundesamt (EBA) einen jährlichen Bericht zum Zustand der Eisenbahninfrastruktur vorzulegen. Darin muss die DB nachweisen, dass sie im vorangegangenen Jahr Maßnahmen zur Verbesserung der Schieneninfrastruktur unternommen hat. Es müssen gewisse Qualitätsziele und Kennzahlen erreicht werden. durch die Deutsche Bahn AG.
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